Hintergrund:

Aufgrund postakuter Infektionssyndrome (PAIS), insbesondere Post-Covid- und Post-Vac-Syndrom und Myalgischer Enzephalomyelitis/Chronischem Fatigue-Syndrom (ME/CFS) sind Betroffene oft über einen längeren Zeitraum arbeitsunfähig und weisen ein hohes Risiko auf dauerhaft aus dem Arbeits- und Sozialleben auszuscheiden. Dabei ist ein großer Teil der Betroffenen im mittleren Alter und gehört damit zu einer wichtigen Gruppe von Arbeitnehmenden. Gelingt es nicht, Betroffene mit hoher Sicherheit zu identifizieren und bedarfsgerecht zu versorgen, ergeben sich erhebliche negative Konsequenzen für die soziale und berufliche Teilhabe sowie für die sozio-ökonomische Absicherung der Betroffenen und die Solidargemeinschaft.
Bei der Initiierung und Steuerung eines koordinierten, integrierten, sektorübergreifenden Diagnose- und Versorgungsprozesses spielt der Hausarzt eine wichtige Rolle. Dabei stellen PAIS sowie ME/CFS aufgrund des breiten Symptomspektrums sowie der inter- und intraindividuell sehr unterschiedlichen Verläufe eine Herausforderung für den Hausarzt dar. So bestehen häufig Unsicherheiten hinsichtlich der geeigneten Diagnostik, was in erster Linie auf einen Mangel an diagnostischen Markern zurückzuführen ist. Zudem fehlt es an Evidenz für wirksame Therapien, was zu Problemen bei der Initiierung hilfreicher Maßnahmen führt. Auch Kontextfaktoren werden selten berücksichtigt und die „Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit“ (ICF) kommt im hausärztlichen Setting kaum zur Anwendung. Individuelle Rahmenbedingen und die ICF sollten aber auch in den hausärztlichen Praxen anwendbar sein.
Aufgrund einer begrenzten Anzahl von Fällen in den einzelnen hausärztlichen Praxen sowie infolge eines verzögerten Transfers aktueller Forschungserkenntnisse in die Versorgungspraxis wächst das Wissen in den Praxen nicht so schnell, wie es für eine bedarfsgerechte Versorgung Betroffener erforderlich wäre. Zudem verfügen hausärztliche Praxen über geringe zeitliche Ressourcen für komplexe bzw. komplizierte Fallkonstellationen. Ferner bestehen Schnittstellenprobleme beim Übergang zwischen Versorgungssektoren sowie Kapazitätsengpässe und Wartezeiten bei spezialisierter Gesundheitsversorgung. Eine große Anzahl an Betroffenen weisen daher erhebliche Versorgungsprobleme auf.

Projektziele:

Ziel des Projekts „GRACI“ ist die Entwicklung, Erprobung und Evaluation standardisierter, praktikabler Strukturen und Prozesse in Form einer manualbasierten Toolbox mit Entscheidungshilfen. Die Toolbox basiert die auf einem integrativen Ansatz und bezieht auf Grundlage der ICF medizinische und kontextuelle Faktoren ein. Die Toolbox soll Hausärzte gezielt bei der Planung und Koordination eines nach Schweregraden abgestuften, integrierten, sektorübergreifenden Diagnose- und Versorgungsprozess unterstützen und Über-, Unter- und Fehlversorgung reduzieren.
Durch die Optimierung des Versorgungsmanagements sollen die Gesundheits- und Erwerbsprognose verbessert sowie die Teilhabe der Betroffenen gefördert werden. Die Wahrscheinlichkeit der Rückkehr an den Arbeitsplatz soll erhöht und die Fähigkeiten zur Selbstversorgung der Betroffenen sollen verbessert werden. Außerdem soll die Zufriedenheit der Patienten mit der Versorgung erhöht werden.

Methodik:

Die Toolbox wird auf Basis der einschlägigen Literatur (Scoping Review) sowie anhand qualitativ erhobener Erfahrungen mit der bisherigen Versorgung (Fokusgruppen/Interviews mit Patienten) gemeinsam mit einem multiprofessionellen Expertenbeirat sowie mit Patienten entwickelt.
Im Zuge der Literaturanalyse werden Veröffentlichungen (Zeitschriften, wissenschaftliche Artikel, Leit-/Richtlinien und Eckpunktepapiere) zu diagnostischen und therapeutischen Ansätzen und zu deren Wirksamkeit gesichtet. In den Fokusgruppen bzw. Einzelinterviews werden mit insgesamt ca. 30 Betroffenen erlebte Herausforderungen hinsichtlich des Diagnose- und Behandlungsprozesses sowie Bedürfnisse und Vorschläge zur Verbesserung besprochen. Auf Basis der Erkenntnisse aus der Literaturanalyse und der Fokusgruppen bzw. Einzelinterviews werden potentielle Inhalte der Toolbox zusammengetragen und im Rahmen eines Abstimmungsprozesses (Konsensusverfahren) diskutiert und festgelegt. Das Konsensusverfahren umfasst mehrere Sitzungen und schriftliche Befragungen mit jeweils ca. 20 Experten und Patienten. Die Teilnehmenden erhalten die Möglichkeit, Feedback zu geben und Verbesserungsvorschläge zu unterbreiten. Diese Rückmeldungen werden gesammelt, ausgewertet und fließen in eine Pilotversion der Toolbox ein.
Nach Abschluss der Entwicklungsphase wird die Pilotversion der Toolbox unter Verwendung von fünf anonymisierten Patientenbeispielen aus Aktenlage (Fallvignetten) sowie mit fünf Patienten in Bezug auf Funktionalität bzw. Praktikabilität sowie Benutzerfreundlichkeit getestet (Pilotierung). Mit den an der Pilotierung beteiligten Hausärzten wird eine Fokusgruppe zur Identifikation weiterer Optimierungsbedarfe durchgeführt. Nach einer eventuellen Anpassung der Toolbox wird diese in mehreren hausärztlichen Praxen eingeführt, wobei die Hausärzte eine umfassende Schulung erhalten.
Im Rahmen des Praxistests wird die Toolbox bewertet. Dabei werden Versorgungsergebnisse (Gesundheit, Lebensqualität, Teilhabe, Zufriedenheit mit der Behandlung) betrachtet. Zudem wird überprüft, ob die Toolbox für Hausärzte gut und problemlos in der Praxis funktioniert und ohne Schwierigkeiten anwendbar ist und ob es Verbesserungsbedarfe gibt. Zudem wird der Nutzen für das Management von Diagnostik und Versorgung (Effektivität) betrachtet. Zu diesem Zweck werden über beide Studienstandorte (Hamburg und Baden-Württemberg) hinweg ca. 40-60 Patienten für die Interventionsgruppe (IG) und ca. 50 Patienten für Kontrollgruppe (KG) rekrutiert. Die Studienteilnehmenden sollen durch 20 hausärztliche Praxen je Standort (10 IG und 10 KG je Standort) rekrutiert werden.
Patienten der KG werden in hausärztlichen Praxen gemäß der bisherigen/üblichen Versorgung behandelt. Patienten der IG werden in hausärztlichen Praxen gemäß der Toolbox versorgt. In beiden Gruppen werden quantitative Daten bei Einschluss in die Studie (Baselineerhebung t0) und 12 Monate nach Studieneinschluss (12-Monats-Followup t1) erhoben. Zur Prozessevaluation werden während des 12-monatigen Beobachtungszeitraumes Behandlungsmerkmale (z.B. Datum und Art in Anspruch genommener Gesundheitsleitungen) anhand eines Dokumentationsbogens erfasst. Darüber hinaus werden anhand von halbstrukturierten Interviews mit je 10 Hausärzten und Patienten der IG qualitative Daten, u.a. zur Praktikabilität, Zufriedenheit und zu Optimierungsbedarfen, erhoben.
Im Anschluss an die Evaluation werden mit dem multiprofessionellen Expertenbeirat sowie mit Vertretern von Selbsthilfegruppen bzw. Patientenorganisationen (Fatigatio e.V., CoVeRSE e.V., Long COVID Deutschland) die Ergebnisse diskutiert und vor dem Hintergrund individueller Krankheitsverläufe und Spezifika des Versorgungskontextes eingeordnet. Ferner wird diesen ein Manual zum Transfer der Toolbox in die Regelversorgung inklusive der Schulungsunterlagen für Hausärzte erarbeitet.

 

Ansprechpartner:

Dr. biol. hum. S. Jankowiak
silke.jankowiak@ifr-ulm.de
07582 – 800 5106
 

Förderung/Fördermittel:

  • Bundesministerium für Gesundheit (BMG)

Kooperation:

  • Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf (UKE)
  • Experten (z.B. Mitarbeiter des sozialmedizinischen Dienstes der Leistungsträger, Fach- und Reha-Ärzte)
  • Hausarztpraxen in Baden-Württemberg und Schleswig-Holstein
  • Vertreter von Patientenorganisationen (Fatigatio e.V., CoVeRSE Bundesverband e.V., Long COVID Deutschland)
  • Betroffene in Baden-Württemberg und Schleswig-Holstein

 
Kontakt:
Institut für Rehabilitationsmedizinische Forschung an der Universität Ulm
Geschäftsstelle
Am Kurpark 1
88422 Bad Buchau
Telefon: +49 7582-800 5300
Telefax: +49 7582-800 5301